VSR 2021
Verkehrssicherheitsreport 2023

Technik und Mensch

Der Mensch im Spannungsfeld der Technik

Die Digitalisierung und Automatisierung hat in fast allen Lebensbereichen unserer modernen Welt Einzug gehalten und durchdringt auch den Mobilitätsbereich immer stärker. Die Begriffe „hochautomatisiertes Fahren“ oder „autonomes Fahren“ sind in aller Munde und gelten als vermeintlicher Königsweg zur Lösung fundamentaler Verkehrsprobleme. Welche Herausforderungen damit verbunden sind und welche Position dabei der Mensch einnimmt, soll in diesem Report ausführlich dargestellt werden.

„Wir sausten los, ohne dass jemand das Steuerrad hielt, flitzten um Ecken, wichen andern ebenso feinen Kraftkutschen aus, niemand hupte. […] Anstelle des Lenkrads fand ich eine Metallplatte, in die sehr fein und deutlich der Stadtplan eingeätzt war. Darüber einen nadelscharfen Zeiger. Kaum hatte ich diesen ein wenig verschoben, fuhr der Wagen an und jagte durch Straßen, die ich noch nicht kannte. Ebenso plötzlich hielt er. […] Das Wunderbarste daran war, dass der Wagen anderen Fahrzeugen auswich, vor belebten Kreuzungen plötzlich Halt machte, andere Autos passieren ließ und sich so benahm, als hätte er sämtliche nur denkbare Verkehrsvorschriften auswendig gelernt.“
Wer heute diese Zeilen aus Werner Illings 1930 erschienenem Science- Fiction-Roman „Utopolis“ liest, mag kaum glauben, in welcher Form der deutsche Schriftsteller damals schon das vorweg nahm, woran Fahrzeughersteller heute mit Hochdruck arbeiten. Zumal er in der weiteren Folge seines Romans im Hinblick auf die technische Funktionsweise der „geheimnisvoll von selbst lenkenden Autos“ auch schon das Thema Konnektivität anspricht: Jeder Wagen verfüge vorne über „ein kleines Prismenauge“, das auf lichtempfindliche elektrische Zellen wirke und mit „unauffällig in die Hauswände“ eingelassenen elektrischen Augen kommuniziere. „Durch wechselnde Spiegelreflexe regulieren diese mechanischen Augen Geschwindigkeiten und Lenkung.“
93 Jahre später steht die Gesellschaft mit der zunehmenden Digitalisierung des Straßenverkehrs an der Schwelle der wohl größten Mobilitäts-Revolution seit der Erfindung des Automobils. Software und Elektronik übernehmen dabei immer mehr Aufgaben und machen das Auto zur rollenden High-Tech-Maschine. Inzwischen ermöglichen alle namhaften Volumenhersteller assistiertes und teilautomatisiertes Fahren, in den nächsten Jahren wird die Anzahl der Fahrzeuge mit Funktionen des automatisierten Fahrens deutlich zunehmen.

Grundsätzlich offen für neue Technologien

Doch wie ist eigentlich die Einstellung zum Beispiel in Deutschland zum automatisierten Fahren? Wie würden sich die Autofahrer gegenüber entsprechend ausgestatteten Fahrzeugen verhalten? Haben sie grundsätzlich Vertrauen in die Sicherheit automatisierter Fahrfunktionen beziehungsweise in Fahrerassistenzsysteme? Gibt es aktuell Probleme bei der Bedienung technischer Funktionen und Systeme in Fahrzeugen? Und wären standardisierte Funktionen und Systeme in Fahrzeugen wünschenswert? Um diese Fragen zu beantworten, hat das Meinungsforschungsinstitut forsa im Auftrag von DEKRA eine repräsentative Befragung durchgeführt. An der Umfrage nahmen im Oktober 2022 insgesamt über 1.500 nach einem systematischen Zufallsverfahren ausgewählte deutschsprachige Einwohner ab 18 Jahren teil.
Was das eigene Verhalten gegenüber vollautomatisierten Fahrzeugen anbelangt, sagen 60 Prozent der Befragten, dass sie einem vollautomatisierten Fahrzeug im Vergleich zu einem von einer Person gesteuerten Fahrzeug mit mehr Vorsicht begegnen würden – und zwar unabhängig davon, ob sie selbst mit dem Auto, mit dem Fahrrad oder als Fußgänger unterwegs sind. 36 Prozent würden einem solchen Fahrzeug mit gleicher Vorsicht begegnen wie einem von einer Person gesteuerten Fahrzeug. Die Skepsis gegenüber vollautomatisierten Fahrzeugen steigt mit zunehmendem Alter der Befragten, bei Frauen ist die Vorsicht größer als bei Männern.
Im Hinblick auf bereits in modernen Autos verbaute Fahrerassistenzsysteme wie Notbremsassistent, Spurhalteassistent oder Abstandsregeltempomat ist das Vertrauen mit 68 Prozent relativ stark ausgeprägt. Immerhin 25 Prozent vertrauen den Systemen allerdings eher nicht und fünf Prozent gar nicht. Etwa die Hälfte der Befragten gibt dabei an, dass sie hinsichtlich ihres Vertrauens in die Sicherheit automatisierter Fahrfunktionen keine Unterschiede zwischen verschiedenen Autoherstellern machen. Für 87 Prozent derjenigen, die in diesem Punkt manchen Autoherstellern mehr als anderen vertrauen, spielt die Marke des Fahrzeugs eine (sehr) große Rolle. Für 78 Prozent ist auch das Herstellungsland ein wichtiger Aspekt, für 55 Prozent ist zudem der Preis des Fahrzeugs ein relevanter Faktor.

Die Ebenen der Automatisierung

Hinter der technologischen Evolution vom manuellen Fahren hin zum vollständig automatisierten Fahren verbirgt sich ein komplizierter und zeitaufwendiger, mit Innovationen auf vielen verschiedenen technischen Gebieten verbundener Prozess. Die Society of Automotive Engineers (SAE) unterteilt diesen Prozess in sechs Level. Level 0 beschreibt das klassische, konventionelle Fahren. Der Fahrer steuert das Fahrzeug, zusätzliche Systeme unterstützen die Informationsverarbeitung des Fahrers durch Orientierungshilfen (Navigationssystem mit Fahrtroutenanzeige) oder Warnungen (zum Beispiel Tot-Winkel-Assistent oder akustische Einparkhilfe). Level 1 beschreibt das assistierte Fahren, Assistenzsysteme übernehmen in bestimmten Situationen einzelne Komponenten der Fahraufgabe. Dazu gehören beispielsweise die Geschwindigkeitsregelung, der Abstandsregler oder auch die aktive Einparkhilfe, die wie ein digitaler Butler das vollständige Einparken in eine Parklücke ausführt. Beim teilautomatisierten Fahren auf Level 2 hält das Fahrzeug unter definierten Bedingungen die Spur und bremst oder beschleunigt selbstständig.
Das hochautomatisierte Fahren auf Level 3 ermächtigt den Fahrer, sich vorübergehend von der Fahraufgabe und dem Verkehr abzuwenden. Das Fahrzeug fährt in dem vom Hersteller definierten Anwendungsbereich selbstständig, wobei die Person am Steuer verpflichtet ist, auf Anforderung durch das System kurzfristig die Kontrolle zu übernehmen. Bereits auf dieser Stufe nimmt der Mensch auf dem Fahrersitz eine hybride Rolle ein, indem er zwischen der klassischen Fahrzeugführerfunktion und einem Fahrzeugnutzer während der Fahrt im automatisierten Modus wechselt. Ein aktuelles Beispiel für eine Automatisierung auf Level 3 ist das System Drive Pilot von Mercedes-Benz. Am 2. Dezember 2021 erfolgte durch das Kraftfahrt- Bundesamt die weltweit erste Typgenehmigung für dieses automatische Spurhaltesystem. Dessen Nutzung in der S-Klasse von Mercedes Benz ist derzeit noch auf autobahnähnliche Straßen bis zu einer Geschwindigkeit von 60 km/h begrenzt und nur zulässig bei Tageslicht, guten Sichtverhältnissen und frostfreier Witterung. Die Person am Steuer muss jederzeit bereit sein, die Fahrzeugführung nach einer entsprechenden Übernahmeaufforderung wieder zu übernehmen.
Im nächsthöheren Level 4, dem vollautomatisierten Fahren, gibt der Mensch am Steuer die Fahrfunktionen vollständig an das Fahrzeug ab und wird dadurch zum Passagier. Das Fahrzeug bewältigt viele Strecken selbständig, und nach Abgabe der Kontrolle an das Fahrzeug darf sich auch der Fahrzeugführer vom Fahrgeschehen abwenden. Das System muss in der Lage sein, die Grenzen rechtzeitig zu erkennen, damit es selbstständig sowie regelkonform einen sicheren Zustand unter Ausschluss von Schadensereignissen erreichen kann, indem das Fahrzeug am Straßenrand oder auf einem Seitenstreifen geparkt wird. Insassen müssten für Verstöße oder Schäden im vollautomatisierten Modus eigentlich nicht mehr haftbar gemacht werden können. Die Führung eines Fahrzeugs auf Level 4 ist deutlich weiter gefasst als bei Level 3 und beinhaltet nur noch wenige, konkret definierte Ausschlusskriterien.
Auf dem höchsten Level, dem autonomen, also fahrerlosen Fahren (Level 5), ist jegliche Beschränkung aufgehoben. Es gibt nur noch Passagiere ohne jegliche Fahraufgaben, während in den Leveln 3 und 4 die Nutzer im Fahrzeug nur zeitweilig keine Fahraufgabe mehr haben. Auf Level 5 haben die Insassen nie eine Fahraufgabe, Fahrten ohne Insassen sind ebenfalls möglich, die Technik im Auto bewältigt sämtliche Verkehrssituationen in Eigenregie. Der Nutzer bestimmt den Zielort und kann sich dann „chauffieren“ lassen. Er wird zum reinen Passagier wie in der Bahn oder dem Flugzeug. Auf diesem Level ist die Person am Steuer vollumfänglich „out of the loop“ und nicht mehr Bestandteil des Mensch-Maschine-Regelkreises.

Komplexität des automatisierten Fahrens

Welche Herausforderungen für die Hersteller und Programmierer mit dem automatisierten Fahren ab Level 3 und höher verbunden sind, zeigt sich unter anderem an der Operational Design Domain (ODD), dem sogenannten Auslegungs- oder auch Betriebsbereich. Die vom Hersteller festgelegte ODD sollte dabei Aussagen mindestens zu den Aspekten Niederschlag, Tageszeit, Sichtverhältnisse, Fahrbahnmarkierungen, Land und V2X-Abhängigkeiten umfassen. Für ein System des automatisierten Fahrens sind außerdem eine Reihe von Sicherheitsaspekten von zentraler Bedeutung. Dazu gehören das sichere Fahren unter Beachtung der Verkehrsregeln, die sichere Interaktion mit dem Nutzer in Form von Statusmeldungen, das Bewerkstelligen sicherheitskritischer Fahrsituationen, das Unterstützen eines sicheren Betriebszustands etwa durch die Meldung anstehender Wartungsarbeiten und das Managen von Störungen aufgrund von Systemfehlern oder einem unzulässigen Systemzugriff.
Darüber hinaus muss das System verschiedene Szenarien verarbeiten können. Genauer gesagt nominale Szenarien (zum Beispiel die Anpassung der Geschwindigkeit und des Abstands zum vorausfahrenden Fahrzeug), kritische Szenarien (etwa wenn vor dem eigenen Fahrzeug ein anderes, langsamer fahrendes Fahrzeug einschert und bremst) sowie Fehlerszenarien wie beispielsweise der Ausfall eines Sensors. Weitere wichtige Definitionskriterien sind unter anderem die Art der Bedienung beziehungsweise des Eingriffs in das System und die Nutzerposition während des Fahrens. Ebenso muss das System wissen, wie viele und welche Arten von anderen Verkehrsteilnehmern sich wo rund um das Fahrzeug befinden und wie sie sich bewegen, um entsprechend reagieren zu können.
Tatsache ist: Mit steigendem Level erhöht sich der Anteil der Fahraufgaben, die durch das technische System übernommen werden. Parallel dazu sinkt der Anteil an Aufgaben des Menschen beim Fahren. Auf den ersten drei Ebenen (Level 0 bis Level 2) unterstützen oder ergänzen die Assistenten und Systeme den Fahrer, der den Hauptteil der Fahraufgabe übernimmt und verantwortlich bleibt. In den höheren Ebenen (ab Level 3) wird die Fahrzeugkontrolle teilweise oder vollständig und dauerhaft an das Fahrzeugsystem delegiert, was dann allerdings neue, bislang unbekannte Risikopotenziale schafft.
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Unfallgeschehen, Mensch, Technik und Infrastruktur – dazu zahlreiche Unfallbeispiele und Statements von Experten aus aller Welt: Der DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2023 beleuchtet das Thema „Technik und Mensch“ unter den verschiedensten Aspekten.
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