Mehr Rücksicht senkt das Unfallrisiko

25. Apr. 2019 Faktor Mensch
Kinder sind von Beginn ihres Lebens an im Straßenverkehr unterwegs. Die Verkehrssozialisation fängt bereits im Babyalter an, wenn auch eher unbewusst. Anfangs nehmen Kinder vorrangig in Begleitung ihrer Eltern am Verkehrsgeschehen teil – zumeist als Mitfahrer in Pkw, aber auch im Kinderwagen, später mit dem Roller oder Laufrad. Erst im Grundschulalter fangen sie an, sich selbstständig im Straßenverkehr zu bewegen. Mit zunehmender Verselbstständigung steigt allerdings auch das Risiko, einen Verkehrsunfall zu erleiden.
Tatsache ist: Verkehrsverhalten wird im Lauf des Lebens erlernt. Und da bekanntlich Übung den Meister macht, braucht es Zeit, bis alle erforderlichen, überlebenswichtigen Kenntnisse und Fertigkeiten erworben und verinnerlicht sind. Begrenzt wird das Lerntempo durch entwicklungsbedingte Beschränkungen: Der zweite Schritt kann nicht vor dem ersten erfolgen. Zwar gibt es talentierte Überflieger und auch die Möglichkeit, Lernprozesse durch frühzeitiges und intensives Üben zu beschleunigen, aber die Abfolge der Entwicklungsschritte ist unveränderbar, weil durch psychosoziale Grundmuster vorgegeben.
Eine der grundlegenden Voraussetzungen dafür, sicher am Verkehr teilzunehmen, ist, dass das Kind über die notwendigen Kompetenzen verfügt. Dazu gehören zum Beispiel die Steuerung der Wahrnehmung und der Aufmerksamkeit, genügend Regelwissen und Regelverständnis sowie motorische und soziale Kompetenzen. Lange Zeit nahm man an, dass diese Leistungsvoraussetzungen mit etwa 14 Jahren vollständig entwickelt sind. Das mag für einfache, übersichtliche Verkehrssituationen stimmen. Mit zunehmender Komplexität wird jedoch deutlich, dass auch in dieser Altersgruppe das Zusammenspiel einzelner Fähigkeiten noch nicht voll ausgebildet ist, weil zum Beispiel die Wahrnehmungsgeschwindigkeit und das periphere Sehen immer noch Defizite aufweisen. Um einschätzen zu können, was man von einem Kind in welchem Alter im Straßenverkehr erwarten kann, muss man genauer betrachten, wie die Entwicklung einzelner Fertigkeiten und Fähigkeiten verläuft.

Hörfähigkeit

Die allgemeine Hörfähigkeit ist schon im Babyalter gut entwickelt. Lediglich die Sensitivität ist geringer, sodass Kinder Geräusche erst bei einer höheren Intensität wahrnehmen. Auch das Richtungshoren (Woher kommt das Geräusch?) und das auditive Erkennen von Geräuschen (Was oder wer macht welches Geräusch?) funktionieren unter einfachen Bedingungen schon im Alter von fünf Jahren gut. Schwieriger ist es mit der selektiven auditiven Aufmerksamkeit (Welches Geräusch ist wichtig?), die von der Reifung des kindlichen Gehirns abhängt und selten vor Erreichen des mittleren Grundschulalters zuverlässig funktioniert.
Grundsätzlich ist im Straßenverkehr das Hören zum Einschätzen und Absichern notwendig. Lautstärken und Tonhöhen zu unterscheiden sowie Geräusche zu lokalisieren und zu unterscheiden gehört zu den wichtigen Funktionen der auditiven Wahrnehmung. Unabhängig vom Vorhandensein der funktionellen Möglichkeiten, nutzen Kinder jedoch bis zum Alter von acht Jahren das Gehör im Straßenverkehr eher selten. Auch wenn sie grundsätzlich in der Lage sind, Hupen, Klingeln, Quietschen oder Fahrgeräusche zu hören, fokussieren sie sich doch eher auf andere Dinge wie Freunde oder Spielgeräte – die Folge ist ein erhöhtes Unfallrisiko. Selbst im Alter von elf Jahren zeigen sich bei der auditiven Wahrnehmung noch geringere Fähigkeiten in Bezug auf das Lokalisieren von Motorengeräuschen als bei Erwachsenen.

Sehfähigkeit

Die grundlegenden Sehfunktionen entwickeln sich bereits im ersten Lebensjahr. Helligkeits- und Farbensehen sind in der Regel mit zwei bis drei Monaten voll ausgebildet. Die Objekterkennung gelingt im Babyalter mit dem Erkennen einfacher Formen und entwickelt sich über die ganze Kindheit bis zum Erkennen von Objekten unter komplexen Bedingungen (zum Beispiel unter verschiedenen Lichtbedingungen, aus verschiedenen Perspektiven) in der Adoleszenz, also dem Zeitraum von der späten Kindheit über die Pubertät bis hin zum Erwachsensein.
Hinsichtlich Sehschärfe und Gesichtsfeld besteht Uneinigkeit, wie lange der Entwicklungsprozess dauert. Je nach Messmethodik schwanken die Altersangaben um mehrere Jahre. Sicher scheint zu sein, dass sich die Sehschärfe größtenteils im ersten Lebensjahr entwickelt und das Gesichtsfeld zwar möglicherweise schon zeitig vorhanden ist, aufgrund noch nicht gut funktionierender kognitiver, also das Denken, Verstehen oder Wissen betreffender Mechanismen aber nicht vollständig genutzt werden kann. Die Tiefenwahrnehmung ist schon im Alter von sechs Monaten gut entwickelt und reift bis zum Alter von etwa elf Jahren nach. Damit in Verbindung stehen die Größenkonstanz, also das Wahrnehmen von Objekten in annähernd konstanter Größe trotz unterschiedlicher Entfernung, und das Schätzen von Entfernungen. Letzteres scheint zwischen sechs und neun Jahren vollständig entwickelt zu sein. Die längste Reifezeit benötigen das Einschätzen von Geschwindigkeiten und die visuelle Suche, die erst ab einem Alter von zehn bis zwölf Jahren zuverlässig funktionieren. Hintergrund ist, dass hierfür komplexere kognitive Prozesse wie die Aufmerksamkeitsfokussierung und die Planung und Ausführung einer Suchstrategie erforderlich sind.
Im Straßenverkehr sind viele Sehfunktionen relevant. Neben der Sehschärfe in Ferne und Nähe sind auch das Sehen in Dunkelheit oder Dämmerung sowie in der Peripherie des Gesichtsfeldes beziehungsweise die Farb- und Bewegungswahrnehmung nicht zu vernachlässigen. Eine besondere Herausforderung stellt die visuelle Wahrnehmung von Entfernung und Geschwindigkeit dar, die nur im Zusammenspiel mit kognitiven Kompetenzen funktioniert. Kinder scheinen diesbezügliche Defizite zum Beispiel durch vorsichtigeres Überqueren von Straßen zu kompensieren. So nutzen sie zum Beispiel größere Lücken im Verkehr, wodurch sie gleichzeitig auch langsamere Verarbeitungs- und Entscheidungsprozesse – das sogenannte langsame Starten – ausgleichen.
Problematisch stellt sich außerdem die Identifikation sicherer Querungsstellen dar. Bis zum Alter von neun Jahren orientieren sich Kinder bei der Wahl der Stelle vorrangig an der Sichtbarkeit der Fahrzeuge – und zwar unabhängig davon, ob aufgrund der eigenen Position andere Hindernisse die Sicht versperren. Gleichermaßen gefährlich ist, dass die visuelle Suche beim Überqueren der Straße (also Fahrzeuge aktiv mit den Augen suchen), wenn überhaupt, lange Zeit eher ritualisiert abläuft – bei Kindern sogar bis zum Alter von 14 Jahren. Dabei verfügen viele Kinder irgendwann sehr wohl über die notwendigen Fähigkeiten, wenden diese jedoch aufgrund von Ablenkung oder Impulsivität nicht oder nicht genügend an.

Motorik

Da die motorische Entwicklung individuell sehr unterschiedlich voranschreitet, ist es kaum möglich, konkrete Angaben über den Zeitpunkt verschiedener Entwicklungsschritte zu machen. Unterschieden wird zwischen Fertigkeiten und Fähigkeiten. Erstere bezeichnen sichtbare Bewegungsmuster, die bewusst und absichtsvoll ausgeführt werden. Die grundlegenden Bewegungsformen werden im Kleinkindalter erworben. Dazu zählen unter anderem Sitzen, Stehen, Greifen, Laufen oder Hüpfen. Vor allem im ersten Lebensjahr kommt es zu einem erstaunlichen Zuwachs an grob- und feinmotorischen Fertigkeiten, die in der Folge nach und nach ausdifferenziert und verbessert werden. Mit circa sieben bis acht Jahren ist bei Kindern das höchste motorische Aktivitätsniveau erreicht. Danach setzt ein Prozess der Individualisierung ein, der von einer kaum vorhandenen, stagnierenden bis zu einer sehr dynamischen motorischen Leistungsentwicklung gehen kann.
Motorische Fähigkeiten hingegen umfassen die Steuerungs- und Funktionsprozesse, die den Haltungen und Bewegungen zugrunde liegen. Dazu zählen nicht nur physiologische Voraussetzungen wie Ausdauer und Kraft, sondern vor allem sensorische, wahrnehmungsbezogene, kognitive und die Motivation betreffende Aspekte. Zum Beispiel erfordert das Werfen auf ein Ziel neben Kraft auch eine richtige Einschätzung der Entfernung und eine Wurftechnik. Daher ist der Erwerb entsprechender motorischer Fähigkeiten erst möglich, wenn auch die anderen Entwicklungsbereiche das notwendige Kompetenzlevel erreicht haben. Ein Beispiel für das komplexe Zusammenwirken mehrerer Funktionsbereiche ist die Visuomotorik, bei der visuelle Informationen für die Steuerung von Bewegungen genutzt werden. Diese Fähigkeit verbessert sich im Laufe der Kindheit, sodass es nach und nach immer schneller, genauer und zuverlässiger gelingt, entsprechende Bewegungen auszuführen. Ein weiteres Beispiel ist der Bewegungssinn beziehungsweise das Körpergefühl. Dabei geht es um das Bewusstsein für die eigene Position im Raum, das sich erst im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren entwickelt.
Auch die Regulierung des Gleichgewichts erfordert das Zusammenwirken verschiedener Körperfunktionen. Deshalb fällt es kleineren Kindern zunächst schwer, das Gleichgewicht mit geschlossenen Augen zu halten. Da sie vornehmlich auf visuelle Informationen zurückgreifen, fehlt ihnen die Orientierung. Im Reifeprozess wird das Sehen unwichtiger und durch die Nutzung des Körpergefühls ersetzt.
Als besonderer Risikofaktor im Straßenverkehr muss die geringe Körpergröße von Kindern benannt werden. Einerseits können Kinder schlechter über Hindernisse hinwegsehen, andererseits werden sie auch durch andere Verkehrsteilnehmer schlechter wahrgenommen.
Das Gleichgewicht spielt vor allen Dingen beim Fahrradfahren eine Rolle. Problematisch ist hier der im Vergleich zum Körper große Kopf, der die Balancefindung erschwert. Motorisch gesehen verfügen Kinder mit circa zehn Jahren über hinreichende Fahrkompetenz. Das sichere Fahren im Straßenverkehr erfordert allerdings sehr viel komplexere Bewegungs- und kognitive Abläufe, die das Zusammenspiel verschiedener Funktionsbereiche beinhalten. Entsprechende Fähigkeiten können erst mit circa 14 Jahren vorausgesetzt werden. Hier allerdings führt die der Pubertät entwicklungsbedingt innewohnende Selbstüberschätzung und Risikobereitschaft dann wieder zu einem erhöhten Unfallrisiko.

Kognitive Fähigkeiten

Zu den ganz elementaren kognitiven Fähigkeiten gehört die Aufmerksamkeit, die in den ersten Jahren vor allen Dingen reflexiv gesteuert ist. Das bedeutet, dass das Kind auf äußere visuelle oder akustische Reize einfach nur reagiert. Erst zwischen dem fünften und elften Lebensjahr entwickelt sich die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zielgerichtet und absichtsvoll auf etwas zu richten. Das Erwachsenenniveau wird etwa mit 14 Jahren erreicht. Im Hinblick auf die Verkehrssicherheit von Kindern ist diese Fähigkeit von zentraler Bedeutung. Denn nur wenn Kinder ihre Aufmerksamkeit tatsächlich auch auf den Verkehr richten, gelingt es ihnen, ihr Verhalten kognitiv zu steuern. Sobald Ablenkung hinzukommt, ist die Verknüpfung zum Gedächtnis und damit auch zu Verkehrswissen, Verkehrsregeln, Verhaltensmaßgaben und Gefahrenbewusstsein nicht mehr gegeben. Entsprechend hoch ist dann die Unfallgefahr. Das Phänomen der Ablenkung besteht bis in die Pubertät fort. Ähnlich sieht es mit der geteilten Aufmerksamkeit aus, also der Fähigkeit, zwei oder mehr Anforderungen gleichzeitig zu beachten. Dabei bestehen die Schwierigkeiten vor allem dann, wenn die Aufgaben unterschiedliche Prioritäten haben.

Gefahrenbewusstsein

Das Gefahrenbewusstsein entwickelt sich ab einem Alter von sechs Jahren in drei Stufen. Zunächst bildet sich ein akutes Gefahrenbewusstsein aus – eine Gefährdung wird erst erkannt, wenn sie schon eingetreten ist, sodass zuweilen kaum noch Handlungsmöglichkeiten bestehen. Als Nächstes entwickelt sich im Alter von circa acht Jahren das vorausschauende Gefahrenbewusstsein, bei dem potenzielle Gefährdungen schon im Vorfeld als solche erkannt werden. Kinder können in diesem Stadium die konkrete Gefahrensituation durch alternatives Handeln noch verändern oder sogar ganz vermeiden. Auf der letzten Stufe, die mit etwa neun bis zehn Jahren beginnt, setzt ein vorbeugendes Gefahrenbewusstsein ein, das Kindern ermöglicht, Gefährdungen vor ihrer Entstehung zu vermeiden. Einschränkend ist zu bemerken, dass ab der Stufe des vorausschauenden Gefahrenbewusstseins nicht nur eigene Verkehrserfahrungen unerlässlich sind für eine adäquate Gefahrenbeurteilung. Es müssen insbesondere auch Kenntnisse über verkehrsmittelspezifische Gefahren verfügbar sein, um angemessen reagieren zu können.
Erschwerend kommt hinzu, dass das Gefahrenbewusstsein situationsabhängig schwankt. Insbesondere in Spielsituationen fühlen sich jüngere Kinder deutlich sicherer, als die reale Verkehrssituation tatsächlich ist (hohes subjektives Sicherheitsgefühl bei niedriger objektiver Sicherheit). In der Pubertät werden Gefahren zwar erkannt, aber bei riskanten Fahrmanövern, beim Rennen über die Straße oder bei Mutproben bewusst ignoriert oder gar gesucht.