Verkehrsräume für Menschen
Verkehrssicherheitsreport 2024

Verkehrsräume für Menschen

Verkehrsinfrastrukturpolitik erfordert einen ganzheitlichen Ansatz

Unabhängig von der Art der Verkehrsbeteiligung, dem Zweck der Fortbewegung oder der Länge der zurückzulegenden Strecke: Eine angemessene und zuverlässige Verkehrswegeinfrastruktur ist die Grundlage zur Erfüllung eines wesentlichen Kriteriums der Mobilität – sicher von A nach B zu kommen. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO werden aktuell bis zu 50 Millionen Menschen jährlich bei Straßenverkehrsunfällen verletzt, rund 1,2 Millionen davon tödlich. Die Ursachen dafür sind vielfältig, oftmals haben aber die Gestaltung und der Zustand der Straßeninfrastruktur einen negativen Einfluss auf die Unfallentstehung oder die Unfallschwere.

Mehr denn je steht die Straßeninfrastruktur in einem Spannungsfeld unterschiedlichster Ansprüche der Nutzenden, der Fortbewegungsart, dem gegebenenfalls genutzten Fahrzeug, der hinter der jeweiligen Verkehrsteilnahmeart stehenden Intention sowie politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Hinzu kommt der rasante Wandel im Mobilitätsverhalten in vielen Teilen der Welt. Weiterentwicklungen in den Bereichen Sensorik, Rechnerleistung und Akkukapazität haben neue Mobilitätsformen hervorgebracht oder bisherige revolutioniert. Der Wandel vollzieht sich dabei schneller, als Anpassungen der Infrastruktur möglich sind.
Schon bei der Betrachtung einzelner Fahrzeugarten wird deutlich, vor welchen Herausforderungen die Verkehrswege- und Verkehrsraumplanung heute steht. Der Trend, dass Pkw mit jeder Nachfolge innerhalb einer Modellreihe breiter, länger, höher und schwerer werden, ist nicht neu. Mit dem zu Beginn dieses Jahrtausends einsetzenden Boom im Bereich der SUV und Vans erreichte die Vergrößerung aber in kurzer Zeit ein bislang nicht gekanntes Ausmaß. Die Anforderungen an Stellplatzgrößen und die Fahrbahnbreite änderten sich schlagartig. Gerade im Innerortsbereich kam und kommt es dadurch zu gefährlichen Situationen. Zum Abstellen der breiteren Fahrzeuge werden Gehwege mitbenutzt, die verbleibenden Durchfahrtsbreiten reichen nicht mehr für größere Einsatzfahrzeuge und gerade für Kinder stellen die Fahrzeuge besondere Sichthindernisse dar.
Mit Einzug des elektrischen Antriebsstrangs ins Fahrrad folgte in diesem Segment ein vergleichbarer Trend nur wenige Jahre später. Pedelec & Co. sind deutlich schwerer und im Durchschnitt schneller als klassische Fahrräder, auch in puncto Länge und Breite haben sie oftmals zugelegt. Daraus erwachsene Derivate im Lastenradbereich weisen teilweise Längen von über 2,5 Metern auf, die Leermasse kann 60 Kilogramm gut und gerne übersteigen. Die klassische Radwegeinfrastruktur ist hier nicht ausreichend, geeignete Abstellmöglichkeiten vor Läden und Bildungseinrichtungen, aber auch in Wohnbereichen fehlen vielerorts. Verkehrsmittel wie E-Scooter und selbstbalancierende Fahrzeuge bringen ebenfalls spezifische Anforderungen und Risiken mit sich.

Diversität unterschiedlichster Fortbewegungskonzepte

Im Nutzfahrzeugbereich gibt es ähnliche Tendenzen. Egal ob Baustellen-Lkw oder Langstreckenfahrzeug, die rechtlich möglichen Grenzen werden heute zumeist voll ausgenutzt. Der vom Onlinehandel befeuerte Lieferverkehr mit Transportern von Kurier- und Expressdiensten stellt die nächste Herausforderung insbesondere für die ohnehin hoch belastete innerörtliche Infrastruktur dar.
Die Diversität unterschiedlichster Fortbewegungskonzepte und Fahrzeuge ist zugleich mit verschiedensten Ansprüchen seitens der Nutzenden an die Infrastruktur verbunden. Zu Fuß Gehende wünschen sich breite, gut beleuchtete Gehwege ohne Stolperkanten und mit ausreichend Abstand zur Fahrbahn, um bei Regen nicht von den vorbeifahrenden Fahrzeugen nassgespritzt zu werden. Radfahrende wünschen sich ebenfalls eine geschützte Umgebung, bei der nicht ständig die Gefahr besteht, von zu dicht überholenden Fahrzeugen abgedrängt zu werden, zu Fuß Gehenden ausweichen zu müssen oder gegen unachtsam geöffnete Autotüren zu stoßen. Fahrerinnen und Fahrer von Pkw wollen zügig vorankommen und nicht ständig wegen geparkter Fahrzeuge den Gegenverkehr passieren lassen müssen oder hinter gefühlt langsamen Radfahrenden festhängen. Mitarbeitende von Kurier- und Paketdiensten wollen möglichst vor jeder angefahrenen Adresse eine ausreichend große Parklücke vorfinden. Anwohnende fordern einen Parkplatz möglichst direkt vor der Eingangstür und verkehrsberuhigende Maßnahmen, gleichzeitig aber auch genug Platz für eine problemlose Anfahrt von Müllfahrzeugen, Umzugs-Lkw oder im Ernstfall Einsatzfahrzeugen.

Mit dem Wechsel der Fortbewegungsart ändern sich häufig auch die gestellten Forderungen.

Hinzu kommen die Bedürfnisse von Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen. So zum Beispiel Leiteinrichtungen für Menschen mit Sehbehinderung und eben keine im Weg liegenden Leih-E-Scooter, minimale bis keine Bordsteine für gehbehinderte Menschen, ausreichend breite Gehwege für Rollator und Rollstuhl, barrierefreie Übergänge an Kreuzungen oder eine gute Verfügbarkeit von freien und nahe am Ziel gelegenen Behindertenparkplätzen.
Der Wunsch nach kürzeren Wartezeiten an Ampeln, dem Vorrang an Kreuzungen und möglichst immer freier Bahn eint dagegen die meisten. Allein die Umsetzung gestaltet sich sehr schwierig. Hinzu kommt, dass Infrastrukturprojekte in aller Regel nicht kurzfristig zu realisieren sind und – nicht zuletzt wegen der hohen Kosten – nach der Umsetzung lange halten sollen. Um den aktuellen, aber auch erwarteten zukünftigen Bedarf möglichst gut abdecken zu können, keine Art der Verkehrsteilnahme unbewusst auszugrenzen und Rechts- und Kostenrahmen einzuhalten, sind Infrastrukturprojekte in der Regel sehr planungsintensiv.

Geltender Rechtsrahmen ist große Herausforderung

Der Planung folgt in den meisten Ländern eine nicht weniger zeitintensive Genehmigungsphase, bevor mit der Umsetzung begonnen werden kann. Die aus dem Mobilitätswandel resultierenden raschen Änderungen bei den Anforderungen und oftmals leere kommunale Kassen haben in den letzten Jahren aber dazu geführt, dass mit pragmatischen Ansätzen neue Verkehrskonzepte in kurzer Zeit entwickelt und umgesetzt wurden. Dass diese vielerorts weder vollständig durchdacht wurden noch in bestehende Konzepte passen, steht auf einem anderen Blatt.
Einen zusätzlichen Schub erhielt dieses Vorgehen während der Covid-19-Pandemie. Durch vielerorts deutliche Rückgänge beim Pkw-Verkehr konnten zum Beispiel Fahrbahnteile zu Radwegen, sogenannten Pop-up-Radwegen, umgewidmet oder ganze Streckenabschnitte komplett für den motorisierten Verkehr gesperrt werden. Auch der Wandel weg von der autogerechten Stadt hin zu klimaneutralen Städten, bei denen der Mensch und die Umwelt im Mittelpunkt stehen, hat gerade im urbanen Bereich zu einem Umdenken geführt. Veränderte Wünsche seitens der Bürger haben Veränderungen in der politischen Landschaft und damit auch in den zuständigen Ämtern und Behörden bewirkt. Infrastrukturplanung wird nicht mehr nur auf das schnelle Erreichen des Ziels mit dem Auto und eine ausreichende Zahl an Parkplätzen durchgeführt. Viel eher wird diskutiert, wie viele Parkplätze zugunsten von Rad- und Fußwegen gestrichen werden können und wo Busspuren angelegt werden sollen.
An den Generationen des VW Golf sieht man beispielhaft, wie Fahrzeuge über die Jahrzehnte immer größer geworden sind
Herausfordernd ist dabei häufig der geltende Rechtsrahmen. Oftmals stammen die Gesetze noch aus Zeiten, in denen der Fokus auf der Nutzung des Autos lag. Zudem ist es in diesem Bereich schwierig bis unmöglich, Gesetze, die für ein ganzes Land gelten, so zu formulieren, dass sie nicht dem einen oder anderen lokal sehr sinnvollen Projekt entgegenstehen. Natürlich müssen Verkehrsregeln einheitlich sein und eine für alle eindeutige Signalisation sicherstellen. Etwas mehr kommunaler Spielraum, gerade auch für Verkehrsversuche oder den speziellen Schutz vulnerabler Verkehrsteilnehmer, hätte aber vielerorts das Potenzial, zu mehr Verkehrssicherheit und mehr Nachhaltigkeit zu führen, ohne dabei nennenswerte Nachteile oder Risiken aufzuweisen.
Die gesetzlichen Forderungen nach einem Mindestaufkommen an zu Fuß Gehenden pro Stunde zur Anlage eines Fußgängerüberwegs (Zebrastreifen) ist im Bereich vor Schulen und Kindergärten nicht immer sinnvoll. Die Forderung nach einer Mindestanzahl von Linienbussen pro Stunde als Voraussetzung zur Anlage einer Busspur wirft vielerorts die Frage auf, wie der ÖPNV attraktiver gestaltet werden kann, um eben mehr Leute zum Umsteigen zu bewegen. Endgültig zur Farce wird es, wenn aufgrund hoher Unfallzahlen und/oder Grenzwertüberschreitungen bei Luftschadstoffen geringere zulässige Höchstgeschwindigkeiten angeordnet werden und sich dadurch die Unfallzahlen beziehungsweise die Luftqualität derart verbessern, dass die gesetzliche Grundlage für die Geschwindigkeitsreduktion fehlt und diese rückgängig gemacht werden muss.

Berücksichtigung unterschiedlichster Anforderungen

Infrastrukturpolitik erfordert also einen ganzheitlichen Ansatz. Dabei geht es nicht nur um die originäre Sicherstellung der Mobilität. Es bedarf überregionaler Verkehrskonzepte, in denen die unterschiedlichen Formen der Verkehrsbeteiligung, der jeweilige Bedarf und auch die politischen Absichten im Bereich des Mobilitätswandels Berücksichtigung finden. Für lokale Projekte müssen diese Konzepte aufgegriffen und umgesetzt werden. Wesentliche Aspekte bei den Einzelprojekten wie im Gesamtkonzept müssen die Sicherheit (Verkehrssicherheit und auch allgemeine Sicherheit), die Nachhaltigkeit der Maßnahmen und der damit geförderten Mobilität, die Klimaneutralität in Umsetzung und beim „Betrieb“, die Sicherstellung von Nutzbarkeit, Pflege und Instandhaltung sowie die Schaffung lebenswerter Räume mit Aufenthaltsqualität sein. Mögliche zukünftige Änderungen beim Mobilitätsverhalten und bei der Art der gewählten Fahrzeuge müssen dabei ebenso berücksichtigt werden, um ohne zu großen Aufwand nachträglich angepasst werden zu können.
Allerdings ist die Umsetzung solcher Maßnahmen in sinnvollem Umfang nur dann möglich, wenn es eine Umverteilung der bestehenden Raumzuordnung gibt, da in aller Regel der verfügbare Platz nicht vergrößert werden kann. Genau darin liegt aber auch ein großes politisches Hemmnis. Der Wegfall von Parkplätzen, die Reduktion von Fahrstreifen, Herabsetzungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, die Schaffung asphaltierter Radwege in Parkanlagen, Verbote zum Überholen von Radfahrenden, die Ausweisung von Fahrradstraßen oder auch die Sperrung von Hauptstraßen für Fahrradnutzende führen dazu, dass bestehende Rechte eingeschränkt werden. Für auf Wählerstimmen angewiesene Politiker, aber auch alle Betroffenen mit ihren unterschiedlichen Einstellungen zur eigenen Mobilität sowie zur Nachhaltigkeit und verschiedenen anderen Bedürfnissen ist dies keine einfache Aufgabe. Viel zu oft werden daher Kompromisse gesucht, die unterm Strich keines der gesteckten Ziele erreichen und letztendlich zur allgemeinen Verwirrung und Unzufriedenheit, im schlimmsten Fall zu mehr Unfällen und Verunglückten führen. Ein gutes Beispiel dafür sind häufig auf die Fahrbahn aufgetragene Linien zur Abgrenzung von Angebotsstreifen für Radfahrende. Meistens sind sie zu schmal für Radfahrende, darüber hinaus werden Autofahrende zu gefährlichen Überholmanövern animiert und spätestens an der nächsten Kreuzung endet der Fahrradstreifen mangels Gesamtkonzept. Einzig in der kommunalen Statistik zur geschaffenen Radinfrastruktur machen sich die Zahlen gut.
Der ganzheitliche Ansatz bei der Infrastrukturplanung setzt voraus, dass frühzeitig in der Planungsphase alle Beteiligten gehört werden, um ihre jeweiligen Anforderungen zu definieren. Dies betrifft auch die Aufteilung der (Um-)Baukosten sowie der resultierenden Folgekosten und Folgeaufgaben. Je nach Vorhaben sind dies neben dem eigentlichen Baulastträger und den zuständigen Ämtern für Umweltschutz und Mobilität die betroffenen ÖPNV-Anbieter, die für die Straßenreinigung zuständigen Stellen, die Polizei und der Rettungsdienst sowie betroffene Telekommunikationsdienstleister und Versorgungsunternehmen. Je nach Umfang der Maßnahmen sollten auch Unfallkommissionen, Verbändevon zu Fuß Gehenden, Radfahrenden oder Menschen mit Beeinträchtigungen sowie die betroffenen Bürgerinnen und Bürger gehört werden.
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